Anmerkungen zur Geschichte des Ablass
von Prof. Dr. Michael Durst, THC, Februar 2011

Mehrfach ist im Kirchenrodel von verschiedenen Ablässen die Rede. Ablässe spielten als Mittel der Heilssicherung in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit eine kaum zu unterschätzende Rolle. Ablässe konnte man zum einen für sich selbst und zum anderen auch für Verstorbene erwerben, denen die Ablässe jedoch nur fürbittweise (per modum suffragii) zugewendet werden konnten.

Zunächst ist dem Missverständnis zu begegnen, nach welchem der Ablass Sünden­vergebung bewirkt. Das ist nicht der Fall. Der Ablass ist vielmehr ein von der Kirche gewährter und vor Gott wirksamer Nachlass von sogenannten zeitlichen Sündenstrafen, die nach erfolgter Vergebung der Schuld, welche im Busssakra­ment (d. h. in der Beichte) geschieht, im Diesseits oder Jenseits (d. h. im Fegfeuer) noch abzubüssen sind. Der Ablass beinhaltet also keine Sündenvergebung, son­dern setzt diese voraus. Deshalb gibt es keinen Ablass ohne Beichte.

Um den Ablass zu verstehen, ist ein kurzer Blick in die Bussgeschichte hilfreich. Im kirchlichen Altertum gab es das Institut der öffentlichen Kirchenbusse, der man sich nur im Falle schwerer Sünde unterzog und die nur ein einziges Mal nach der Taufe (der poenitentia prima) möglich war. Dabei bekannte der Pönitent dem Bischof seine Sünden (exhomologesis conscientiae) und erhielt eine nach der Schwere der Sünden gestaffelte Busszeit auferlegt, für die er von der Eucharistie ausgeschlossen war (Bussexkommunikation) und in der er Busswerke zu verrich­ten hatte. Nach Ablauf der Busszeit wurde der Pönitent dann vom Bischof rekon­ziliiert und wieder in die kirchliche Gemeinschaft aufgenommen.

Unter den Einfluss der Iroschotten erfuhr das Busswesen im frühen Mittelalter eine Veränderung. An die Stelle der Kirchenbusse trat die Tarifbusse, die zweiwichtige Änderungen mit sich brachte. 1. wurde die Busse nun wiederholbar, konnte also nicht mehr nur einmal im Leben, sondern zu wiederholten Malen statt­finden. Damit kam die Busse nunmehr nicht nur für schwere Sünden, sondern auch für weniger schwere in Gebrauch. 2. erfolgte die Rekonziliation (die Losspre­chung) nun direkt im Anschluss an das Schuldbekenntnis, während der Pönitent die auferlegte Busse im Anschluss daran zu leisten hatte, wobei die Bussexkom­munikation entfiel. Die Busszeiten („Tarife“, daher „Tarifbusse“) für die einzelnen Sünden legten Bussbücher fest, welche die von altkirchlichen Synoden festgesetz­ten Busszeiten fortschrieben und verfeinerten. Die Bussen oder Strafen waren kei­neswegs klein. Beispiele: Im Poenitentiale (Bussbuch) des Halitgar von Cambrai (frühes 9. Jh.) beträgt die Busszeit für Mord lebenslang, für Totschlag 7 bzw. 5 Jahre, für wissentlichen Meineid 7 Jahre, für Diebstahl 5 Jahre usw. Nach dem Bussbuch (Liber de poenitentiarum mensura taxanda) des Columban († 615 in Bobbio) büsst derjenige, der sich betrinkt oder bis zum Erbrechen isst und trinkt, eine Woche bei Wasser und Brot. Wer Ehebruch oder Hurerei beabsichtigt hat, ohne sie auszuführen, büsst 40 Tage. Wer jemanden im Streit körperlich verletzt hat, muss diesen gesund pflegen, seine Arbeit verrichten, bis er wieder gesund ist, und 40 Tage bei Wasser und Brot Busse tun usw. In diesen Busszeiten wurzelt im übrigen die zeitliche Berechnung bzw. Anrechnung bei den Ablässen nach Tagen, Monaten und Jahren.
Da nun die Sünden keineswegs nur klein und wohl auch häufig waren, konnten sich die Bussen schnell summieren, so dass ein Pönitent oft kaum noch in der Lage war, sie abzuleisten. Deshalb griff man (seit dem 6. Jh. im iroschottischen Raum, seit den 7./8. Jh. auf dem Festland) zum Mittel der
Kommutation, der Umwandlung der Bussen, wobei diese bisweilen auch abgemildert wurden. So konnte z. B. ein Tag Busse durch das Beten von 50 Psalmen ersetzt werden. Eine weitere Möglich­keit bildete die Redemption, der Loskauf von der Bussleistung durch Zahlung einer entsprechenden Summe Geldes. Seit dem 8. Jh. gab es dann auch die Red­emption durch Stellvertreter. Wer nicht fasten kann oder will, kann einen Ersatz­mann, etwa einen Mönch dingen, der für ihn die Busse ableistet. Oder ein Buss­fasten von sieben Jahren kann durch ein dreitägiges Bussfasten von 840 Männern ersetzt werden. Dieser Stellvertretungspraxis liegt theologisch die Vorstellung zu­grunde, dass in der Kirche, dem Leib Christi, ein Glied für das andere eintreten kann. Die Bussleistung durch Stellvertreter war nie unumstritten, wurde bisweilen von Synoden bekämpft, hielt sich aber noch bis ins 12. Jh., um dann in der Ablass­praxis aufzugehen.

Von den Redemptionen, bei denen die Tarifbusse bisweilen in eine mildere Busse umgewandelt wurde, zum Ablass war es nur ein kleiner Schritt. Hinzu kommt jedoch als weiteres Element die Fürbitte der Kirche. Seit alters her hatte die Kirche die Bemühungen der Büssenden einerseits durch die Fürbitte der Märtyrer und Konfessoren, andererseits aber auch durch ihr liturgisch-amtliches Gebet unter­stützt. Im frühen Mittelalter geschah dies durch die sogenannten „Absolutionen“, offizielle Gebete und Segenswünsche der Kirche, die etwa am Gründonnerstag zur Rekonziliation (nach Erteilung der Busse am Aschermittwoch) gesprochen wur­den. Seit der Jahrtausendwende traten an die Stelle eines allgemeinen Gebets, be­sonders wenn die Lossprechung mit einer Beichte verbunden war, Rekonzilia­tionsformeln. Die bekannteste, die heute noch beim päpstlichen Segen Urbi et Orbi wie auch im Bussakt der hl. Messe verwendet wird, lautet: Indulgentiam, absolu­tionem et remissionem (omnium) peccatorum vestrorum concedat vobis omnipo­tens et misericors dominus (Nachlass, Vergebung und Verzeihung [aller] eurer Sünden gewähre euch der allmächtige und barmherzige Herr). Verbunden waren solche Absolutionen zumeist mit einem Aufruf zu guten Werken oder zur Be­teiligung am Bau einer Kirche oder Ähnlichem.

Die ersten nicht im Rahmen des Busssakraments erteilten Ablässe begegnen im 11. Jahrhundert in Frankreich. Bischöfe sichern den Gläubigen bei Verrichtung eines bestimmten Ablasswerks (z. B. Mitarbeit am Bau einer Kirche) die amtliche Für­bitte der Kirche zu und erliessen ihnen in einem jurisdiktionellen Akt einen Teil der oder die ganze kanonisch auferlegte Busse. Die Erteilung des Ablasses war verbunden mit einem Gebet um Erlass der Sündenstrafen vor Gott, das als amt­liches Gebet als besonders wirksam betrachtet wurde, und zwar als mindestens so wirksam wie die vollbrachten Bussleistungen. Das führte bald dazu, dass man die Wirkungen des Ablasses nicht mehr nur auf die kanonisch auferlegten Bussen be­schränkte, sondern auch auf die von Gott verhängten jenseitigen Strafen aus­dehnte. Eine weitere Folge war, dass man das Ablasswerk immer weniger als Rest der ursprünglich zu leistenden Busse betrachtete, sondern als Voraussetzung zur Gewinnung des Ablasses.

Die Praxis des Ablasses, die sich allgemeiner Beliebtheit erfreute und sich schnell ausbreitete, war – wie häufig – der theologischen Reflexion vorausgeeilt. Erstmals interpretierte der Kanonist Huguccio von Pisa († 1210) am Ende des 12. Jahrhun­derts den Ablass als einen jurisdiktionellen Akt der Kirche, durch den die eigentli­chen (d. h. die jenseitigen und nicht nur die kanonisch auferlegten) Sündenstrafen vor Gott erlassen werden. Unklar blieb vorerst noch, wieso Fürbitte der Kirche die jenseitigen Wirkungen der Bussleistung ersetzen konnte. Tatsächlich war bis zur Hochscholastik die Auffassung vorherrschend, dass die jenseitige Wirkung des Ablasses nicht einfach aus der Lossprechungsgewalt der Kirche herrührte, sondern nur fürbittweise (per modum suffragii) bestehe. Hier bot erst die im frühen 13. Jahrhundert entwickelte Lehre vom Thesaurus ecclesiae (dem Kirchenschatz) eine konveniente Lösung. Danach besteht der Thesaurus ecclesiae aus den (überschüs­sigen) Verdiensten Christi und seiner Heiligen. Die Kirche, die kraft der Schlüs­selgewalt über ihn wie ein Besitzer über sein Vermögen Verfügungsgewalt hat, kann daraus schöpfen und ihren Gläubigen zuwenden. Damit liess sich erklären, wieso die Kirche in einem jurisdiktionellen Akt den Nachlass jenseitiger Sünden-strafen autoritativ und unfehlbar verfügen konnte. Je mehr man aber den Ablass mit dem Thesaurus ecclesiae in Verbindung brachte, umso mehr wurde die Ertei­lung von Ablässen dem Papst reserviert, da dieser als Nachfolger des hl. Petrus aufgrund der Schlüsselgewalt allein darüber volle Verfügung hatte. Da sich das Interesse nunmehr immer stärker auf die Gewissheit des Nachlasses zeitlicher Sün­denstrafen konzentrierte, die durch den Thesaurus ecclesiae garantiert war, wurde die geistliche Bedeutung des mit dem Ablass verbundenen Ablasswerks, das ja ein „Rest“ der eigentlich zu verrichtenden Bussleistung war, immer uneinsichtiger. Die Folge war, dass es zu immer grösseren Ablassgewährungen bei immer kleine­ren Ablasswerken kam. Waren vollkommene Ablässe, die den Nachlass sämtlicher Sündenstrafen garantierten, zunächst die Ausnahme – Papst Urban II. hatte erst­mals 1095 auf demKonzil zu Clermont-Ferrand den auf dem Kreuzzug sterbenden Kreuzfahrern einen vollkommenen Ablass zugesichert – so begegnen sie seit dem ersten vollkommenen Jubiläumsablass, den Papst Bonifaz VIII. im Jahre 1300 aus­rief, zunehmend häufiger. Die Tatsache, dass der Ablass einer auf Heilssicherung bedachten spätmittelalterlichen Frömmigkeit in höchstem Masse entsprach, führte im 15. Jahrhundert zu einer ungeheuren Vermehrung von Ablässen und zugleich zu einer bedenkenlosen fiskalischen Ausnutzung seitens des Papstes und der Kurie, wodurch die Veräusserlichung des Ablasswesens kräftig vorangetrieben wurde. Das wurde schliesslich zum Auslöser der Reformation.
Trotz der reformatorischen Kritik spielte der Ablass in der katholischen Frömmig­keit im Zeitalter der Katholischen Reform und des Barock eine wichtige Rolle. Diese hielt an bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts, um im Bewusstsein des nachkonziliaren Katholizismus allmählich zu verblassen.

Auch heute gibt es in der katholischen Kirche noch eine Vielzahl von Ablässen, auch wenn diese im Bewusstsein und in der Glaubenspraxis des zeitgenössischen Katholizismus kaum noch eine Rolle spielen. Im Nachgang zum Zweiten Vatikani­schen Konzil hat Papst Paul VI. in der Apostolischen Konstitution „Indulgen­tiarum doctrina“ von 1. Januar 1967 das Ablasswesen neu geordnet. Die wichtigste Neuerung ist, dass die früher übliche Berechnung der Ablässe nach Tagen, Mona­ten und Jahren aufgegeben wurde. Heute gibt es nur noch den Plenarablass oder vollkommenen Ablass und Teilablässe, die in ihrer Wertigkeit nicht mehr spezifi­ziert werden. Die Liste der heute noch gültigen Ablässe findet sich in dem „Enchi­ridion indulgentiarum“, welches die Apostolische Pönitentiarie in erster Auflage 1968 neu herausgegeben hat (4. Auflage 1999; deutsch: Handbuch der Ablässe. Normen und Gewährungen, Bonn 1989). Einige Beispiele: Mit der Teilnahme am päpstlichen Segen Urbi et Orbi ist – auch an Radio und Fernsehen – ein vollkom­mener Ablass verbunden. Durch den Besuch einer Kirche an Allerseelen (2. No­vember) und das Beten des Vaterunsers und des Glaubensbekenntnisses kann ein vollkommener Ablass für einen Verstorbenen erworben werden, der diesem für­bittweise zugewendet wird. Teilablässe gibt es für den in frommer Gesinnung er­folgenden Besuch einer Katakombe, das aufmerksame Hören einer Predigt, die andächtige Verrichung bestimmter Gebete wie Vaterunser, Glaubensbekenntnis, Ehre sei dem Vater, Rosenkranz usw.

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 "Literatur Hinweise"
  - Lexikon für Theolegie und Kirche   http://www.lthk.de/
  - Lexikon des Mitteralters http://de.wikipedia.org/wiki/Lexikon_des_Mittelalters  
                                              http://wiki-de.genealogy.net/Lexikon_des_Mittelalters

Aus der Diskussion nach dem Vortrag zur Geschichte des Ablass von Prof. Dr. M. Durst: Auf eine Frage aus dem Publikum, wer denn die Buchhaltung führte zu den Sünden und den dazu erwirkten Ablässen: Der spätmittelalterliche Mensch dachte: Man kann ja nie wissen. Dass es mir nach dem Tod gut geht, dass ich mein ewiges Heil erwirken kann, muss ich etwas dafür tun. Deshalb hat man sich um möglichst viele Ablässe bemüht. In diesem System führt das natürlich zu einer Veräusserlichung. Das Buss-Werk sollte  ja den, der die Busse tut, zur Besinnung bringen, damit das Geschehene aufgearbeitet wird. Aber mit diesem System führte dies dazu, dass nur noch [die erwirkten Ablass Tage] gezählt wird. Der Witz an der Sache ist, dass so viel Sie auch zählen und anhäufen, die Heilsunsicherheit werden Sie nicht los. Sie wissen nie, ob Sie genug angehäuft haben. Dies ist auch höchst unbefriedigend. Zu keiner Zeit ist in der Kirche mehr gebetet worden, als am Vorabend der Reformation – im Sinne dieser Heilssicherung. In dem Moment, wo man weiss: Ich muss das tun, dann lastet das auf mir, und ich kann am Ende doch überhaupt nicht den Anforderungen Genüge tun. Diese Erkenntnis führt mit der Reformation zurück zur ursprünglichen alten katholischen Wahrheit, dass wir unser Heil nicht erwirken können, sondern dass das allein von der Gnade Gottes abhängt.“