Lektüre zum Thema Jahrzeitenbücher
A) Die Jahrzeitenbücher der Zürcherischen Landschaft
von Friedrich Hegi
Sonderabdruck aus der Festgabe Paul Schweizer,    Zürich – Buchdruckerei Berichthaus – 1922

B) Die Jahrzeitenbücher der Pfarrkirche Ufenau (vor 1415)
und der Pfarrkirche Freienbach (1435)
von Dr. phil. Albert Hug
Die Jahrzeitbücher des Kantons Schwyz, Band 3 . Schwyz – Gutenberg Druck AG, Lachen – 2008,  ISBN 978-3-033-01582-1

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A) Stichworte aus Die Jahrzeitenbücher der Zürcherischen Landschaft

      Link zu Ausschnitt (Einleitung komplett und Richterswil)

Aus dezidiert reformierter Sicht beschreibt F. Hegi 1922 die offenbare gehäufte Erstellung von Jahrzeitbüchern /Anniversarien kurz vor der Reformation als mittelalterliche Verbindung von Altruismus und Egoismus, Unterstützung der Armen im Diesseits und Seelenheil für Spender und seine Vorfahren im Jenseits.

 Als Beweisstücke für Rechte und Pflichten wurde in Urkunden und Akten auf Jahrzeitbücher verwiesen und zwar vor und noch nach der Reformation (auch in der Landschaft Zürich, obwohl kirchlich mittlerweile ohne Funktion).

Leutpriester Heinrich Vinsler (†1513) , Pfarrer zu Stäfa (seit 7.10.1479, berufen durch Gentilis de Spoleto, Bischoff von Anagni und päpstlicher  Legat in Deutschland und bei den Eidgenossen und mit Zustimmung von Konrad von Rechberg, Administrator des Klosters Einsiedeln) gilt als Schreiber u.a. der Richterswiler Jahrzeit (bis 1502 erstellt) aufgrund seines roten Notariatssignets (gezeichnet von Hand; im Urbar 1506 in Schwarz möglicherweise mit Stempel). Es gibt auch von Vinsler geschriebene nicht kirchliche Urkunden aus Meilen und Stäfa. Hegi vermutet Vinsler habe den Notarsrang durch den Pfalzgrafen und Dekan Albrecht v. Bonstetten zu Einsiedeln erhalten. Vinsler war gesucht  als kalligrafischer Schreiber von Jahrzeitbüchern, auch weil er die Missalienschrift http://de.wikipedia.org/wiki/Missalschrift  beherrschte.  Hegi schreibt Vinsler zu: Anniversar Hombrechtikon 1495, Kirchenurbar Hütten 1496, Anniversar Richterswil 1496-1502, Anniversar Wald 1498, Kirchenurbare Hombrechtikon und Richterswil 1506.
Joh. Kaltschmid von Zürich schreibt 1471 Anniversar Horgen und 1473 Anniversar Uster.

S. 126 „Die Errichtung und Signierung eines Jahrzeitenbuches durch einen offenen Notar verlieh dem Rechtsempfinden des ausgehenden Mittelalters offenbar erhöhte Beweiskraft. Der Usus greift sogar aufs Urbar über, hier aufs Kirchenurbar. Bevollmächtigte der Kirchgenossen und Zeugen müssen dabei sein. - Die notarielle Fertigung bot den Vorteil gesicherter Rechtstitel für die Bezüger der Jahrzeitenerträgnisse, aber auch für die Stifter und ihre Rechtsnachfolger selbst zur Innehaltung der Seelenmessen durch die Geistlichkeit. In den Fällen, wo in den Urkunden Jahrzeitenbücher als Beweismittel angeführt sind, handelt es sich meistens um Wahrung von Einkünften aus Stiftungen für die zu Jahrzeiten verpflichtete Geistlichkeit. Mit der Reformation, die die Abschaffung der Seelenmessen im Gefolge hatte, tauchten aber auch andere Probleme auf: Festhalten am Zweck der Stiftung oder Beseitigung der Abgaben und Rückgabe des Kapitals! Die Aktensammlungen zur Reformationsgeschichte weisen zahlreiche Klagen und Prozesse wegen dieser neuen Sachlage auf. Die einen … wurden anfangs noch geschützt, dann aber ein allgemeines Mandat erlassen am  4. April 1526 erlassen, das die Verwendung der Jahrzeiten-erträgnisse vorzüglich zugunsten des Armenwesen…es sei der Bestand der Kirchengüter aufzunehmen … dann wurden vielerorts die Jahrzeitenbücher selbst obsolet. Nur ganz ausnahmsweise erfolgte  die Rückgabe von gestifteten Jahrzeitgütern.“  Ablösungen gestifteter Abgaben im Richterswiler Jahrzeit datiert von 1553 bis 1613. 
In der Richterswiler Jahrzeit und Urbar sind von jüngerer Hand „w“ gesetzt, wo der gestiftete Betrag an Wollerau ging bei der Trennung von Richterswill.

 

B) Stichworte aus Die Jahrzeitenbücher der Pfarrkirchen Ufenau und Freienbach
Kursive Kommentare von Laie  Mark Dressler, Hütten
Diverses zur Geschichte der Urpfarrei Ufenau ab 8. Jh. (Beata Landolt, Herzogin Reginlinde, Kaiser Otto I., St. Adalrich, Ulrich von Hutten..) und zum Umfang der Urpfarrei: Hombrechtikon, Stäfa, Freienbach, Richterswil (inkl. Wollerau), Wädenswil und Altendorf.  Letztere Orte gründen ab 10. Jh. bis 1396 schrittweise eigene Pfarrkirchen (Abkurung).

Zur Pfarrei Freienbach:  1308 Abkurung Freienbach von Ufenau,  1158 St. Nikolaus Kapelle Freienbach,
 1132 St. Andreas Kapelle Pfäffikon (ab 16.Jh. St. Anna Kapelle genannt),
Kapelle Wilen und Kapelle im Turm/Schloss bzw. Weissenburg Pfäffikon.
Abkurung Feusisberg von Freienbach (1492 Jakobskapelle, 1509 Jakobskirche).

Vorgeschichte zur Entstehung der Jahrzeitstiftungen
Zum Frühchristentum ist die eucharistische Feier am Grab des Verstorbenen (refrigerium) überliefert. Spätestens in karolingischen Zeiten wird das Totengedächtnis in den Messkanon aufgenommen. Klöster, später auch Spitäler und Kirchen, beginnen Totenbücher (Necrologien) zu führen.
Parallel dazu entwickelte sich die Heiligen- und Märtyrerverehrung, wozu Heiligenverzeichnisse kalendarisch nach dem jeweiligen Todestag geordnet wurden. Der Todestag wird positiver als der Geburtstag gewertet – weil der Tod der Übergang zum ewigen Leben ist (…, der Todestag bei Märtyrern auch der Tag des endgültigen Glaubensbeweises ist und bei gefallenen Kriegern der Tag des Opfers für eine höhere Sache).
Das zunehmende Bedürfnis für das eigene Seelenheil (und dasjenige von Verwandten) zu stiften kann auch mit der Brutalisierung der Lebensumstände (Kriege [neue Waffentechnik und Strategien], Krankheiten [Pest] und Klima) erklärt werden. „Eschatologische Ängste erfassten immer breitere Kreise der Bevölkerung. Naturkatastrophen und Krankheiten verstand man als Strafe Gottes…Volksprediger…Endzeiterwartungen…Höllenstrafen…Leiden, welche der ignis purgatoris (das Fegefeuer) erwarten lässt, ehe die geläuterte Seele Aufnahme im Paradies  findet.“
Gnadenmittel waren: Abkehr von sündhaftem Lebenswandel, Gebet (insb. auch zu den Heiligen), Besuch der Messe  (insb. auch an heiligen Tagen) und der damit erlangte Ablass, wobei reguliert wurde, welcher Art Tat zu wie viel Ablass (von Tagen im Fegefeuer) berechtigte.  Päpste und Bischöfe stellten Ablassbriefe zuhanden eines Gotteshauses aus -wie auch belegt für Ufenau und Freienbach (Ablassbrief: 5. Mai 1464, Siena, 7 Kardinäle).

Die Beschreibung (S. 96) der gewährten Ablässe (z.B. Kirchenbesuch an Heiligentagen) ist vergleichbar mit dem Satz zum Ablass im Chilerodel Hütten: “Nun uff allen obgenannten patronen und heilgen tag ist gäben ablass von bischoff Daniel Bellenens XL [40] tag ablass dötlicher sünd und ein jar täglichen ane [ohne] der gross aplass den der wirdig orden hatt Sant Johans [Johanniter].“

Zur Stiftung
Der „fryenteil“ eines Erbvermögens (für die Stiftung), der dem Erbrecht entzogen war, nannte man auch Seelheilsschenkung, pro remedio animae. Verkürzt:  Mit einer Stiftung bittet man um Ablass über den Tod hinaus, während noch zu Lebzeiten die oben genannten Gnadenmittel angewandt werden können.
Die materielle Zuwendung (Stiftung) von Spendern ist auch eine Gegenleistung für die alljährliche Gebetsverpflichtung, die ab dem 12. Jh.  zur Entstehung der Jahrzeitbücher (Anniversarien, Jahrtagbücher, Seelgrätbücher, Seelbücher) führt. Damit sollten also die Jahrzeitbücher nicht mehr lediglich wie die ursprünglichen Totenverzeichnisse dazu dienen, der Verstorbenen gedenken zu können, sondern  die Verantwortlichen an die Jahrestagverpflichtungen erinnern, wofür mit einer Stiftung (einmalig) bezahlt wurde (oder alljährlich gezinst wird).

Eine Stiftung wird definiert durch
1. Datumbezug (i.d.R. Todestag des Stifters), gilt damit jährlich
2. Stifter (selbst  willentlich stiftend oder aus Nachlass, z.B. weil gefallen im Morgarten)
3. Gedächtnis (für welche Personen Seelenheil  erbeten wird; meist für den Stifter und seine Angehörigen)
4. Stiftungsbetrag oder Naturalspende
    - Geld (oft  auch „Zürcher Währung“ genannt): Schilling/solidus, Pfund/liber, Pfenning/dennarius, Haller/Heller
    - Kernengeld: „ein halber mut kernen geltzs ewigs zins“ = Getreidezins im entsprechenden Geldwert
    - Natural: Getreide(Dinkel) + Nüsse in Mütt (modius = 82 Liter) => Viertel (quartale) = 20.5 Liter,
       Weizenmehl für Hostien (oflate/oblate), Ziger (quarkähnlicher Weichkäse),
       Butter in Bechern (ciphus) (16 Becher = 1 Viertel => 1 Becher > 1 Liter),
       Hühner, Fische, Wachs, Messkelch, kirchliche Gewänder, Kissen, Topf, Mörser
5. Empfänger (Person oder Sachen, denen die Leistung zugesprochen wird)
    - Leutpriester  (Seelsorger) u/o bzw. Kirchherrn (Pfarrer), Sigrist,
    - Arme (Kleinbauern, Witwen, Waisen, Kranke, Alte, Pilger, Fremde)
      Die Stiftung, die primär dem eigenen Seelenheil dient, konnte auch zweckgebunden für die  Armenfürsorge
      gespendet werden. Damit verband sich (angesichts der tiefen sozialen Kluft) die Seelsorge mit der
      Armensorge.
    - Licht (<= Wachs, Talg, Kienholz Fackel, Olivenöl)  - div. Kerzentypen etc.
       umfangreicher und differenzierter Lichteinsatz je ritueller Funktion
    - Kirchen-Bau und Unterhalt
    - Begriff „Kirchenfabrik“ (ecclesie ad structuram, fabrica ecclesiae)
       Kirchenstiftung zur Verwaltung des aus Zuwendungen entstandenen Kirchenvermögens (temporalia),
       verwaltet durch procuratores (später Kirchenpflege genannt)
       Beispiel: Johannespfrund 29.12.1315 für die St. Johanneskapelle im Klosterkreuzgang Einsiedeln
6. Grundbesitz (durch Zins der Stiftung belastet) - Seiten 111-113
     Hof, Land (auch: Ritterturm zu Wollerau, 1366 im Besitz von Heinrich Stapfer, in der Turmmatt vermutet)
7. Wünsche zum anzuwendenden Ritus (Priester, Gesänge, Kerzen…)

Jahrzeitstiftungen führten Einträge in kalendarischer Reihenfolge
Der Kalendereintrag im Jahrzeit entspricht dem Todestag des Stifters, dem Tage seines Begräbnisses oder einem naheliegenden Tag eines Heiligen. Nebst den Einträgen an Tagen von Heiligen und Märtyrern gibt es die Weihetage (eines Altars, einer Kirche…), die Vigilien (Gottesdienst am Tag vor einem heiligen Festtag) und die Oktav (8 Tage nach einem Festtag). Auch Nachwirkungen des römischen Kalenders (mit seinen 4 Festtagen zum Mondzyklus, siehe dazu wikipedia  Kalenden, Nonen, Iden und Terminalien) sind in den Jahrzeitbüchern erkennbar.

Seite 44 zu den sogenannten Schlachtenjahrzeiten (für die Gefallen, die ohne Sterbesakramente aus dem Leben geschieden sind).  Der Tag der Schlacht ist der Todestag der Gefallenen, denen die Fürbitte gilt.
26 Juni: „Johannis et Pauli martyrium. Uf dissen tag gand wir mit crútz uf den Etzel.“ Bittgang der Höfe, March und von Einsiedeln in Erinnerung an das im alten Zürichkrieg im Jahr 1439 am Etzel geführte Gefecht.

Auch Prozessionen (ohne Schlachtenhintergrund) waren ebenfalls im Jahrzeitkalender eingetragen. Am 25.April (Markus) fand eine Prozession von Wädenswil/Richterswil nach Freienbach statt – vielleicht auch in Erinnerung an die gemeinsame Vergangenheit in der Urpfarrei Ufenau und der teils wetterbedingt beschwerlichen Bootsfahrt.

Ergebnis eines Abgleichs der „üblichen“ Lostage der Heiligen der Jakobskapelle Hütten (1496) http://www.villmergerkriege.ch/Chilerodel/Altar.htm mit dem Heiligenkalender in den Jahrzeitbüchern Ufenau/Freienbach:
- Maria wird nicht am 1.Januar erwähnt 
(stellt sich die Frage, welches der zahlreichen weiteren Marienfeste galt)
- Margaret wird am 15. statt 20. Juli genannt (damit analog zum Festkalender der Diözese Konstanz)
*)
- Jost (Jodoci) wird nicht erwähnt (der 13.Dezember gilt auch im Festkalender Konstanz)
*)
Alle anderen “Hüttner  Heiligen“ werden an den „üblichen“ heiligen Daten erwähnt.
*) zum Kalender der Diözese Konstanz: https://www.adfontes.uzh.ch/ressourcen/datierungen-aufloesen/festkalender-der-dioezese-konstanz  
   
dort anerbieten sich ca. 8 heilige Tage für Maria – darf das Wädenswiler Chilbidatum den 22.Aug suggerieren?

Begleitende Schriften
Die Jahrzeitbücher mit ihren Hinweisen auf Stiftungsgüter und Zinsen, die manchmal auch separat in Urbaren aufgelistet wurden, entwickelten später auch den Charakter einer Beweisurkunde als Besitznachweis bei Streitigkeiten. Die Jahrzeitbücher hatten nicht nur den liturgischen Zweck, sondern dienten auch dem Kirchmeier / Kirchenvogt, die Zinseingänge zu überwachen. Durch diese permanente Funktion  entwickelte sich das Buch auch zu einem zentralen Gefäss, das allerhand andere Informationen aufnahm, wie z.B. Gebete, Ablassbriefe und Chronikalisches (Brände, Hungersnöte, Überschwemmungen etc.)
Gemessen an der dominierenden Stellung des Kalenders in den Jahrzeitbüchern Ufenau und Freienbach
(nach Kalender geordnete Feste, Stiftungen etc.) handelt es sich beim Chilerodel Hütten nicht um ein klassisches Jahrzeitdokument. Es erinnert stärker an ein Urbar mit rechtlichem Charakter und an ein Gründungsdokument mit liturgischen Anweisungen.

Regionale, noch erhaltene frühe Jahrzeitbücher
Morschach
1500, Wangen 1419 (nur Auszug), Freienbach ca. 1500 (Kopiervorlage: 1435) + 1596 Neuauflage *],
Altendorf ca. 1470-1493 (+Neuauflage *] 16./17. Jh.), Galgenen </= 1477, Tuggen ca. 1490 + Tuggen ca. 1500,
Ufenau  (1415, weil mehrheitlich [ausser Spenden] lateinisch => wahrscheinlich ab einer Vorlage vor 1300)
Richterswil/Wollerau:   1496-1502 (STAZH FII c 63a)
                                               ca. 1300 Necrologium, Fragment (MGH Necrol. 1, 663 – STAZH, W I 3, 7c)
Weitere Innerschweiz:   Seedorf (Uri) 1470 +Necrologium Lazariterhaus Seedorf 1225-35,
                                                Spiringen (Uri) 1515 (bis 1940 in Gebrauch!!)
*] Zu den Neuauflagen: Alte Jahrzeitbücher gingen in der Regel verloren - z.B. Wiederverwendung des Pergaments.   
     Verwendung von Papier ca. ab 1500.
Neuere Jahrzeitbücher (editiert): https://www.e-periodica.ch/digbib/dossearch?ssearchtext=Jahrzeitbuch&facet=
  

Bedeutung modern editierter Jahrzeitbücher
Seite 55: Jahrzeitbücher werden zunehmend als wertvolle historische Quelle verstanden für allg. + Schweizer-Geschichte, Wirtschafts-,  Sozial-, Mentalitäts- und Rechtsgeschichte, Genealogie und Ortsnamensforschung.

Im Gegensatz zur sicherlich modellhaften Editierungsweise und Erläuterung der umfangreichen Jahrzeitbücher (Schwyz, Lachen, Ufenau, Freienbach) in der Buchreihe „Die Jahrzeitbücher des Kantons Schwyz“ durch entsprechend professionell Befähigte und in Anbetracht der Vielzahl noch nicht editierter Kirchendokumente in der Region, kann man www.villmergerkriege.ch/Chilerodel/index.htm (zum vergleichsweise kurzen Hüttner Chilerodel) auch als eine einfachere, rudimentäre Editions-Alternative auch durch und für Laien verstehen. Die vergrösserbare Abbildung der vollständigen Originalschrift erlaubt den Nachvollzug der Transkription. Die Publikation im Internet begünstigt:
- schrittweises Editieren, rollende Aktualisieren, für mehrere Beteiligte
- parallele Breit-Sicht auf Original, Transkription und Interpretation.